Che­mi­e­leh­rer­kom­pe­ten­zen als Ziel che­mi­e­di­dak­ti­scher Aus­bil­dungs­pro­zes­se

Von H.-J. Becker und S. Spaniol-Adams

 

1. Standards für Lehrerverhalten: Rollenerwartungen und Rollendistanz

(Hans-Jürgen Becker)

 

Realitäten von (Chemie)Unterricht zu entsprechen bzw. Realitäten zu verändern oder zu differenzieren kann als ein steuerbarer (sozialer, gesellschaftlicher) Prozess aufzufassen sein. Entsprechende Zielformulierungen bedingen dann Standards, die im weitesten Sinne Orientierungsfunktionen und Gestaltungsspielräume in der beruflichen, schulischen Realität besitzen bzw. ermöglichen sollen. Als unterrichtliche Standards sollen sie in institutionalisierten Ausbildungsprozessen der 1. Phase und 2. Phase vermittelt werden. Es reicht nicht aus, sie einfach über übergeordnete Leitvorstellungen zur chemischen Bildung "mit- und dazuzudenken" und somit allenfalls als "Vorstellung" zu reflektieren. Speziell Chemiedidaktik muss sich - aufgrund der schon seit Jahrzehnten kritischen Lage von allgemein bildendem Chemieunterricht - (nun endlich) als didaktische Disziplin an der Leitlinie "Lernverhalten in der Auseinandersetzung mit Chemie" (mithin also auch an Schülerverhalten) orientieren. Zweifelsohne sind solche Standards nach Lage der Forschung (Becker 1994) möglich und bezogen auf die Lehre dringend nötig (Hildebrandt 1998): Unterrichtliche Kompetenzen sind dann Standards für chemische Lehr- und Lernprozesse an allgemein bildenden Schulen.

 

Der Beitrag versucht einmal beispielhaft (Becker 2000) zu vermitteln, wie die Beschäftigung mit Verhaltensfragen während des Lehramtstudiums entsprechende Kompetenzen aufbauen kann. Es sind zunächst Verhaltenserwartungen an die Aufgabe Chemielehrer zu antizipieren, zu beachten und sicherlich auch zu verwirklichen (Rollenerwartungen), dann aber (auch) Selbstbewusstsein und Kompetenzen aufzubauen, um unangemessenen Erwartungen entgegenzutreten bzw. durch eigenes Verhalten (z.B. negative) Erwartungen überzeugend zu korrigieren, also Standards "durchzusetzen" (Rollendistanz). Gerade in dieser Verhaltensbalance besteht eine große Chance für innovativ-nachhaltige Veränderungen von Chemieunterricht - zum Besseren hin. Ansonsten besteht die Gefahr der Stagnation.

 

Der Beitrag spiegelt auf zweifache Weise "Standards" der chemiedidaktischen Ausbildung. Hochschuldidaktisch sind Studierende an diese Problematik heranzuführen - etwa in selbständig forschenden Tätigkeiten im Rahmen der Lehre (vgl. chemie.upb.de/arbeitskreise/didaktik/ak_becker/index_lehre.html). Gleichzeitig sollen Kriterien zur Beschreibung und Deutung (Interpretation) von Verhaltenssituationen thematisch vermittelt werden. Die sog. Rollentheorie liefert neben anderen (etwa moderner) Konstruktionen und Modellen eine - wie ich finde - geeignete Rahmenorientierung, Facetten von (beruflichem) Lehrerhandeln zu vergegenwärtigen, zu beschreiben und zu deuten, - als Standard für reflektiertes Schul- bzw. Unterrichtshandeln. Diese Frage wurde in einem Hauptseminar von Sylvia Spaniol-Adams als so spannend erlebt, dass sie als Staatsexamensarbeit bearbeitet wurde - auf dem Hintergrund der Paderborner Lehr- und Forschungssituation (vgl. weiter unten).

 

Im Übrigen: Die stärkere Akzentuierung und hochschuldidaktische Konkretisierung von Verhaltensfragen insgesamt ist eine große Chance, Standards für eine autonome und selbstbestimmte und somit professionelle Ausgestaltung von Chemieunterricht zu vermitteln. Chemie zu unterrichten, ist dann (erst) akademisches Berufshandeln. Dies ist zumindest zu erwägen, als von vornherein die Standardisierung, also die Vereinheitlichung von Chemieunterricht durch noch nicht abschließend und noch nicht genau auf Wirkungen überprüfte chemiedidaktische Konzeptionen zu präferieren: Standards sind immer situationsabhängig und in Situationen zu realisieren - und nicht mechanistisch durch fremdbestimmte, also von "anderen" entwickelte curriculare Materialien; dies zeigt u. a. die Auseinandersetzung mit rollentheoretischen Aspekten - aber auch die Geschichte der Chemiedidaktik und Chemieunterricht (Köhler 2002) der vergangenen 100 Jahre.

 

2. Die Untersuchung: Grundlagen, Ergebnisse, Konsequenzen

(Sylvia Spaniol-Adams)

 

2.1 Ansatz und (Forschungs)Methode

 

Im Mittelpunkt der Examensarbeit "Erwartungen von Rollenpartner an Chemielehrer: "Leitlinien für die chemiedidaktische Ausbildung in Paderborn" Spaniol-Adams 2002), stehen die Vorstellungen und Erwartungen von unterschiedlichen Rollenpartnern an "junge" Chemielehrer. Um diese empirisch zu eruieren, werden Personengruppen ausgewählt, die direkt in Lehr-Lernprozesse integriert sind, nämlich die Schüler und "ältere" Chemielehrer sowie Personengruppen, die nur indirekt auf Chemieunterricht einwirken, nämlich die Eltern und Seminarleiter. Als Untersuchungsmethode habe ich mich für die schriftliche Befragung (Fragebogen) entschieden. Zur Erstellung des Fragebogens werden im Vorfeld die für den Sekundarstufenbereich I zuständigen Mitglieder der Chemiedidaktik in Paderborn von mir interviewt, um zum einen Meinungen zum theoretischen Chemielehrerbild aus Sicht der Fachdidaktik Paderborn zu bekommen und zum anderen Hinweise für die Fassung des Fragebogens zu erhalten. Auf diese Interviews wird im Folgenden mit dem Hinweis gelegentlich Bezug genommen. Schlussfolgerungen aus diesen Interviews wurden in Items gefasst, die die Struktur des Fragebogens festlegen. Im Zentrum des Fragebogens steht das Verhalten des Chemielehrers. Sein Verhalten ist geprägt durch seinen fachlichen und sozialen "Background" und durch seine Persönlichkeitsstruktur. Nach dieser Unterscheidung wird der Fragebogen entwickelt, der sich inhaltlich wie folgt darstellt:

 

Frage 1: Fachwissen vermitteln / Frage 2: Verstehensprozesse anleiten / Frage 3: Alltagsbezug herstellen / Frage 4: Wahrnehmungsgesetze beachten / Frage 5: Prioritäten der Verhaltensweisen / Frage 6: Chemielehrer-Eigenschaften / Frage 7: Kennzeichen eines guten Chemieunterrichts / Frage 8: Formelsprache / Frage 9: Experimente / Frage 10: Soziales Verhalten / Frage 11: Selbstständigkeit / Frage 12: Fachkompetenz - Sozialkompetenz / Frage 13: Zusammenfassung

 

Dieser Fragebogen wurde dann im Technisch-gewerblichen und Sozial-pflegerischen Berufsbildungszentrum in Merzig (Saarland) an die Schüler, Chemielehrer, Eltern und Seminarleiterin verteilt. Die Fragebögen hatten eine Rücklaufzeit von einer Woche, so dass die Ergebnisse zügig ausgewertet werden konnten. Im letzten Schritt wird überprüft, ob sich das von der Praxis "gewünschte" Chemielehrerbild mit dem in der Ausbildung vermittelten Chemielehrerbild deckt, also ob zukünftige Chemielehrkräfte lernen, Forderungen nach effektivem, zukunftsfähigem und vernetztem Unterricht zu erfüllen.

 

2.2 Rollenerwartungen: Die chemiedidaktische Ausbildung

 

Im Paderborner Arbeitskreis Chemiedidaktik arbeiten vier Personen: drei wissenschaftliche Angestellte (Dr. Ohrbach, Dr. Hildebrandt, A. Müller) und der Leiter des Fachgebietes Professor Dr. Hans-Jürgen Becker. Professor Becker, der seine Seminare selbst hält, gestaltet diese so, dass das Konstrukt Lehrer-Schüler den Lehramtsanwärtern durch Schulungen von "sozial-personalen, didaktischen Kompetenzen" (Interview Becker) näher gebracht wird. Dabei geht er auf fachliche Inhalte kaum ein, denn die Fachkompetenz der Studenten setzt er voraus. Er legt großen Wert auf die Fähigkeit der "didaktischen Reflexion" (Interview Becker). Seiner Meinung nach sollte ein Chemielehrer in der Lage sein, Leistungsprozesse von Lernprozessen der Schüler zu trennen. Junge Chemielehrer sollten demnach die kognitiven Fähigkeiten der Schüler derart ansprechen, dass sie vom Prozess des Reproduzierens hin zu der Fähigkeit der Transferleistung geführt werden. Das verlangt von dem Lehrenden nicht nur hohe Flexibilität und situative Kompetenz, sondern auch persönliche Eigenschaften. Diese im Vermittlungsprozess notwendigen Persönlichkeitsmerkmale spielen in der Paderborner Chemiedidaktik eine zentrale Rolle. Professor Becker sensibilisiert die Studenten in den Seminaren so, dass sie auf die unterrichtliche Situation aufmerksam gemacht werden, sie reflektieren und gegebenenfalls ihr Verhalten verändern. Er ist der Meinung, dass der Lehrer durch eine kooperative, entwickelnde Verhaltensweise den Schülern helfen könne, auch die abstrakte Chemie zu begreifen und dabei möglicherweise auch Spaß zu haben. Die Motivation der Schüler sollte dadurch gefördert werden, dass interessante Themen im Unterricht angesprochen werden. Die Chemiedidaktik Paderborn sieht im Zusammenhang individueller, (persönlicher) Lehrervoraussetzungen und Unterrichtsverhalten einen Kristallisationspunkt der universitären Ausbildung: Vor allem geht es um eine didaktische Sensibilität und um eine Reflektion von unterrichtlichen Situationen. Jedoch wird, nach Meinung von Professor Becker, kein Lehrerprofil zum Abhaken (Interview) vermittelt. Die folgende Abbildung stellt graphisch das Chemielehrerbild aus Sicht der Chemiedidaktik Paderborn zusammen (vgl. Abb. 1): Der Schüler steht im Mittelpunkt von Lehr-Lern-Arrangements. Der Lehrer ist in der Lage, diesen Prozess (aufgrund seiner Persönlichkeit und seinem Verhalten) zu beeinflussen.

 

 

 

Abb. 1: Chemiedidaktische Anforderungen an junge Chemielehrkräfte (Paderborner Sicht)

 

2.3 Rollenerwartungen: Die schulische Praxis

 

Ein Chemielehrer steht im Mittelpunkt des Lehr-Lern-Prozesses und muss als solcher die unterschiedlichen Erwartungen und Anforderungen der anderen Rollenpartner erfüllen. Um Konflikte zu vermeiden, muss der Lehrer also in der Lage sein, mehrere Sektoren der Rolle gleichzeitig zu spielen. Dies ist jedoch nicht immer möglich, so dass es unweigerlich zu Konflikten kommt. Die Aufgabe des Chemielehrers besteht nun darin, diese täglichen Konfliktsituationen zu bewältigen. Seine Persönlichkeit und sein pädagogisches und fachwissenschaftliches Wissen helfen ihm dabei. Es ist also notwendig, herauszubekommen, welche Persönlichkeitsstrukturen und welche fachlichen und sozialen Kompetenzen notwendig sind, um diese Aufgabe zufriedenstellend zu lösen. Solche Informationen liefern die Fragebögen. Einige Ergebnisse werden im Folgenden kurz detailliert bzw. vertieft. Insgesamt haben die Antworten auf die gestellten Fragen gezeigt, dass sich die Rollenpartner - Schüler, Eltern, Chemielehrer und Seminarleiterin - oft einig sind, wie sich ein Chemielehrer im Unterricht "didaktisch" zu verhalten hat. Allerdings stellt sich heraus, dass die vier Rollenpartner jeweils unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie die Persönlichkeitsstruktur des Chemielehrers auszusehen hat. Mädchen- und Jungen-Erwartungen unterscheiden sich diesbezüglich nicht allzu sehr (vgl. Abb. 2).

 

Verstehensprozesse anleiten - Schüler wahrnehmen

Alle vier Rollenpartner sind der Meinung, dass der Chemielehrer unbedingt in der Lage sein sollte, Verstehensprozesse anzuleiten und auf Schüler und Schülerinnen auch einzugehen. Demnach soll der Chemielehrer Schüleräußerungen und Schülervorstellungen berücksichtigen und mit Hilfe seiner Fach- und Methodenkompetenz einen Umdenkungs- bzw. Verstehensprozess anleiten. Alle vier Rollenpartner setzen diese Eigenschaften an erste Stelle.

Schüler ernst nehmen - Rückfragen zulassen - Menschlichkeit - Interesse am Fach

Bei diesen Persönlichkeitsmerkmalen gibt es unterschiedliche Gewichtungen. Für die Schüler ist es sehr wichtig, dass der Lehrer sie ernst nimmt und Rückfragen zulässt. Während Mädchen mehr menschliche Werte schätzen, wünschen Jungen, dass Chemielehrer Interesse an ihrem Fach zeigen. Die Eltern wiederum sehen ebenfalls die Menschlichkeit als eine sehr wichtige Eigenschaft an und fordern, dass Chemielehrer engagiert ihr Fach unterrichten. Chemielehrer und auch die befragte Seminarleiterin sehen ihre vornehmliche Aufgabe eher darin, die Schülerinnen zu motivieren und Rückfragen zuzulassen. Die Motivation spielt bei den Schülern zwar eine wichtige Rolle, ist für sie aber nicht das Wichtigste. Die Pädagogen haben die tägliche Lehr-Lern-Situation vor Augen und wünschen sich deshalb motivierte Schüler.

 

Chemischen Formelsprache - Experimente

Das Thema der chemischen Formelsprache führt ebenfalls dazu, dass Unstimmigkeiten zwischen den Rollenpartnern vorherrschen. So können sich die Mädchen durchaus einen Unterricht ohne Formeln vorstellen, während die meisten Jungen, Eltern und auch einige Pädagogen entgegengesetzter Meinung sind. Allerdings erwartet wird aber nicht, dass die chemischen Formeln im Mittelpunkt des Chemieunterrichtes stehen. Der junge Chemielehrer muss dennoch immer versuchen, "Formelthemen" den Schülern näher zu bringen, um so die Lernschwierigkeiten möglichst gering zu halten. Im Gegensatz zur Formelsprache sind sich die Rollenpartner einig, dass Experimente bei der Steigerung der Schülerinteressen eine zentrale Rolle spielen (müssen). Die Schüler, Eltern, Seminarleiterin gehen zu 95 % davon aus, dass viele Experimente im Unterricht durchzuführen sind. Sie gehen ebenfalls alle davon aus, dass je nach Anspruch und Thema die Experimente vor allem von Schülern durchgeführt werden.

 

Sozial- und Fachkompetenz

Neben der Rolle des Fachlehrers wird in Fachkreisen diskutiert, ob junge Chemielehrer ebenfalls die Rolle des Erziehers übernehmen sollen. Durch diese Befragung stellt sich heraus, dass die meisten Schüler Wert darauf legen, dass Chemielehrer auf soziale Werte wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Rücksichtnahme etc. hinweisen sollen. Überraschenderweise sehen das nicht alle Eltern so. Die befragten Chemielehrer und die Seminarleiterin beziehen dazu eindeutig Stellung. Sie sehen die Notwendigkeit darin, die Schüler auch "zu erziehen". Auch die Entscheidung, ob der Chemielehrer sich nur auf seine Fachkompetenz und nicht auch auf seine soziale Kompetenz berufen soll, bewerten die Rollenpartner unterschiedlich. Die Mädchen und Eltern sind sich (wieder) einig, indem sie für die Abdeckung beider Kompetenzen im Unterricht plädieren. Die Eltern sprechen in diesem Zusammenhang auch vom "gegenseitigen Respekt". Die Jungen bevorzugen eher die Fachkompetenz. Auf diese Weise wird Respekt erreicht. Durch diese Erkenntnis müssen junge Chemielehrer den Balanceakt zwischen einem fachorientierten und dennoch interessanten und erziehendem Unterricht schaffen, ansonsten sind Konflikte in der Unterrichtsklasse vorprogrammiert. Dies ist eine für Unterrichtsanfänger sehr schwierige Herausforderung.

 

 

 

 

Abb. 2: Chemiedidaktische Anforderungen an junge Chemielehrkräfte ("Praxis"-Sicht)

 

2.4 Evaluation aus studentischer Sicht: Eine Gegenüberstellung

 

Vergleicht man nun die Ergebnisse der mündlichen Befragung von der Fachdidaktik Paderborn mit denen der schriftlichen Befragung von Eltern, Schülern, Chemielehrern und Seminarleiterin so zeigt sich, dass sich viele theoretische Ansätze in der Praxis wiederfinden. Hauptsächlich liegt die Übereinstimmung in den Anforderungen an die personal-emotionale Kompetenz. Die befragten Schüler, Eltern, Chemielehrer und Seminarleiterin haben sich darauf festgelegt, dass Chemielehrer in erster Linie Verstehensprozesse anleiten, Wahrnehmungsgesetze beachten und Fachwissen vermitteln soll. Demnach sollen Chemielehrer auf Schüleräußerungen und Schülervorstellungen eingehen und mit Hilfe ihrer Fach- und Methodenkompetenz Verstehens- und Umdenkungsprozesse bei den Schülern anleiten. Diese drei Verhaltensweisen haben sich bei der schriftlichen Befragung herauskristallisiert. Die Fachdidaktik Paderborn sieht hierin nicht unbedingt die wichtigste Aufgabe, so dass in diesem Fall keine Übereinstimmung herrscht. Die Theorie hält statt dessen die Verhaltensweisen Vorstellungen zur abstrakten Chemie vermitteln, Leistungs- und Lernprozesse trennen, Selbstvergewisserungskompetenz besitzen, entwickelnde, helfende Eigenschaften haben und die Balance zwischen lenken und geben halten für absolut notwendig. Durch die Beantwortung der Fragen haben die Rollenpartner gezeigt, dass ihnen diese Eigenschaften nicht vordergründig sehr wichtig sind. Also herrscht hier keine direkte Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis. Übereinstimmende Meinung herrscht darüber, dass Chemielehrer die Schüler ernst nehmen und motivieren, Rückfragen zulassen und dabei menschlich bleiben sollen. Wenn die Theorie nun fordert, dass ein Chemielehrer in der Lage sein soll, sich in die Schülergedanklich zu versetzen, dann findet auch das die Zustimmung der Rollenpartner. Nur derjenige, der dazu bereit ist, kann Lernschwierigkeiten, die im Fall der Modelle vorprogrammiert sind, erkennen und begreifen. Er kann dann methodisch auf unterschiedliche Art und Weise diese Schwierigkeiten im Unterricht thematisieren. Es ist darauf zu achten, auf die kognitiven Möglichkeiten der Schüler Rücksicht zu nehmen und in geeigneter Fachsprache den Schülern zu antworten.

Während dieRollenpartner der Praxis die o.a. Eigenschaftsprofile noch dadurch erweitern, dass Chemielehrer Interesse am Fach zeigen müssen, betont die Theorie eher die Notwendigkeit für den Lehrer, die Angst vor dem Fach Chemie zu nehmen, extrovertiert und flexibel zu sein. Eigenschaften, die wiederum für die Schülerinnen, Eltern, Seminarleiterin und Chemielehrer nicht so wichtig sind, sie werden zumindest nicht erwähnt.

 

Bei dem Thema Experimente sind alle Rollenpartner einig, dass das Experiment als Medium im Chemieunterricht helfen kann, die Verstehensprozesse bei Schülern anzuleiten. Darüber hinaus bieten die Experimente die Chance, Schüler aktiv in den Unterricht einzubinden. Die Fachdidaktik weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Experimente nur dann diese Funktionen erfüllen können, wenn sie zu sehr auf die Vermittlung von abstrakten Begriffen zugeschnitten werden und wenn Chemielehrer es schaffen, das Vorwissen der Schüler zu aktivieren.

Abschließend wird die Frage untersucht, ob ein Chemielehrer gleichzeitig fach- und sozialkompetent sein soll. Hierin waren sich die Rollenpartner nicht einig. Während Schüler, Pädagogen und Eltern diese Frage mit Ja beantworten, entscheiden sich die meisten Jungen für die Fachkompetenz. Sie verlangen einen fachorientierten Unterricht. Die Chemiedidaktik in Paderborn bezieht hier eindeutig Stellung, indem sie den Schwerpunkt eher auf die Sozialkompetenz legt (vgl. weiter oben). Soziales Verhalten als Verhaltenserwartung wird von den Rollenpartnern unterschiedlich gesehen. Während die Schülerinnen und Pädagogen der Meinung sind, dass das die Aufgabe eines Chemielehrers sein soll, sind sich die Eltern nicht ganz einig.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Vergleich von Theorie und Praxis die Erwartungen an einen Chemielehrer überwiegend gleich sind. Die Leitlinien, die die Paderborner Chemiedidaktik für die Lehre aufgestellt hat, erweisen sich als praxisnah - und gerecht. Es zeigt sich, dass die Lehrepersönlichkeit in der Tat eine große Rolle im Lehr-Lern-Prozess spielt, und dass die Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Verstehensprozesse anleiten und Wahrnehmungsfähigkeiten beachten, von den Schülern als absolut notwendig eingestuft werden. Allerdings: Die Lehramtsanwärter müssen gelernt haben, methodisch vielfältig ein nicht verstandenes Problem auf unterschiedliche Art und Weise den Schülern erklären zu können. Dies wäre z. B. von der Paderborner Chemiedidaktik zu vertiefen.

 

2.5 Stellungnahme aus studentischer Sicht: Veränderungen von Einstellungen

 

In meiner Examensarbeit wurden zum einen die durch eine mündliche und eine schriftliche Befragung in Erfahrung gebrachten Rollenkonflikte junger Chemielehrer aufgezeigt und zum anderen dargestellt, welche Aufgaben sich daraus für die Lehre ergeben. In diesem Zusammenhang sollte überprüft werden, ob die Chemiedidaktik Paderborn den Lehramtsanwärtern das notwendige Rüstzeug für die spätere Praxis mitgibt (vgl. 3).

Die anfänglichen Erwartungen, die ich in den Interviews an die Mitglieder der Fachdidaktik Paderborn gestellt habe (vgl. 2.1), hatten sich zunächst einmal nicht erfüllt. Ich bin davon ausgegangen, dass ich auf diese Weise Anhaltspunkte für eine Checkliste zum Chemielehrerbild bekomme. Dieses Chemielehrerbild wollte ich dann durch eine schriftliche Befragung von Rollenpartnern überprüfen. Bereits im ersten Interview musste ich jedoch feststellen, dass in der Chemiedidaktik kein starres Bild vermittelt wird. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter sagt: "Es gibt kein fertiges Leitbild " (Interview Hildebrandt). Mit dem Fortschreiten der Interviews erkannte ich, dass das Leitbild der Theorie kein Fixum und dadurch für jeden Lehramtskandidaten unterschiedlich ist bzw. sein kann. Mir wurde klar, dass jeder aufgrund seiner eigenen Persönlichkeit mit individuellen Möglichkeiten (chemie)didaktisch agieren muss - im schulischen und unterrichtlichen Feld.

Meine schriftliche Befragung hat die Meinung der Chemiedidaktik in Paderborn bestätigt, dass nur die Symbiose aus personal-emotionalen und kognitiven Kompetenzen dem Lehrer die Chance bietet, einen guten Unterricht zu machen. Dadurch ist mir klar geworden, dass die universitäre Ausbildung vor allem auf diese soft skills großen Wert legen muss, gleichzeitig aber auch Erklärungshilfen und -modelle für die unterschiedliche chemische Problemstellung liefern sollte. Der zukünftige Chemielehrer kann dann wiederum durch seinen eigenen Stil und den Bezug zu alltäglichen Problemen den Schülern die Verständnisprobleme besser aufzeigen und verschiedene Lösungen anbieten. Neben diesem Aspekt hat die schriftliche Befragung ebenfalls gezeigt, dass die Experimente innerhalb des Chemieunterrichtes für alle Rollenpartner einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Da sich alle, die direkt oder indirekt in den Lehr-Lern-Prozess integriert sind, darin einig sind, sollte meiner Meinung nach die universitäre Ausbildung noch mehr Wert auf den sinnvollen Einsatz von Experimenten legen. Durch die Seminare weiß ich, dass es eine Reihe von Anforderungen beim Aufbau von Apparaturen gibt, die in direktem Zusammenhang zu den Wahrnehmungsproblemen der Schüler stehen. Damit also die Experimente nicht zur "Motivations- und Abstraktionsfalle" werden, würde ich mir wünschen, dass man hier in der Fachdidaktik Paderborn in den Experimentalseminaren noch mehr Hilfestellungen erhält.

Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen bin ich der Meinung, dass die größte Einflussnahme auf den zukünftigen Lehrer in der universitären Ausbildung liegt. Sie legt einen Grundstein für das spätere Handeln von Chemielehrern. Ich habe in den letzten Semestern erkennen müssen, dass ich aufgrund meiner Persönlichkeit und auch meiner Verhaltensweise gegenüber Schülern unmittelbar, vielleicht auch unbewusst, den Lehr-Lernprozess gestalte. Das war mir zu Beginn meines pädagogischen Studiums nicht so bewusst. Ich habe gelernt, dass die Fachkompetenz nicht ausschließlich die wichtige Voraussetzung für einen guten Unterricht ist, sondern dass die personal-emotionalen Kompetenzen darüber entscheiden, ob mein Unterricht von den Schülern angenommen wird. Dieser Lernprozess basiert unter anderem darauf, dass in der universitären Ausbildung die (auch von mir gestaltete) Praxis sowohl in den Seminaren als auch in dem semesterbegleitenden Tagespraktikum reflektiert wurde. Die Fachdidaktik hat die Aufgabe, die Lehramtsanwärter sattelfest für die Praxis zu machen und das schafft sie nur, wenn Standards geschaffen werden, die zwar kein Leitbild zum Abhaken darstellen, aber dennoch einen roten Faden für zukünftige Lehrer darstellt. Allerdings: Vielleicht gelingt es, stärker als bisher in Paderborn üblich, die chemiedidaktische Lehre für die Ausbildung chemiebezogener Fachkompetenzen zu nutzen (vgl. weiter oben).

 

3. Stellungnahme aus der Sicht des Chemiedidaktikers: Antworten und Entwicklungen

 

Die Kurzzusammenfassung der Staatsexamensarbeit veranschaulicht aus rollentheoretischer Perspektive den Stellenwert von Chemielehrerverhalten im Lehr-, Lern- und Erziehungsprozess. Die spezielle Frage ist, inwieweit das von der Paderborner Chemiedidaktik vermittelte Chemielehrerbild Ansprüchen und Erwartungen von Rollenpartnern der "späteren" Praxis entspricht (vgl. 2.3). Dazu werden theoretische Standards im Arbeitskreis "Chemiedidaktik" (vgl. 2.5), die Erwartungen der Rollenpartner eruiert. Der Anspruch der Paderborner Chemiedidaktik, ob denn Lehre, also hier die chemiedidaktische Ausbildung, die chemiedidaktische Theorie durch unterrichtliche Praxis reflektiert bzw. spiegelt, wird geprüft (untersucht). Hinsichtlich personal-emotionaler Kompetenzen, Chemielehrerverhalten (-eigenschaften), experimenteller Anforderungen, methodisch-pädagogischer Fähigkeiten ergibt sich ein Hohes Maß an Übereinstimmung. Allerdings: Rollenkonflikte werden hinsichtlich differenzierter Bewertungen sozialer und fachlicher Kompetenzen durch unterschiedliche Rollenpartner vermutet (vgl. 2.4). Für Eltern ist ein "guter" Chemielehrer zunächst Fachmann als Pädagoge - im Gegensatz zu Mädchen. Diese Feststellung stützt dann auch die Erkenntnis, dass Statuszuweisungen (vor allem für Chemieoberstufenlehrer) gerade durch Fachkompetenzen erfolgen. Aus unserer Sicht ist dies geradezu kontraproduktiv und unserem Leitbild konträr, gerade auch im Hinblick auf PISA-Ausdeutungen. Es bleibt zu diskutieren, ob (gerade bezogen auf dieses Beispeil) Rollenerwartungen immer zu entsprechen sind oder ob Konflikte nicht bewusst in Kauf zu nehmen sind, um Rollen neu zu definieren: Gelingt es der chemiedidaktischen Ausbildung ein pädagogisches Lehrerbild so stark zu verinnerlichen, dass es dem Druck von anderen Erwartungen standhält und sich ausschließlich an Schülerinteressen und -wünschen orientiert? Im Übrigen: Gelegentlich ausgemachte Differenzen von "Praxis- und Theorie- Erwartungen" sind eher begrifflich konstruiert als sachlich gerechtfertigt. Die chemiedidaktische Erwartung, Leistungsprozesse von Lernprozessen zu unterscheiden und (möglichst) zu trennen, widerspricht nicht der Erwartung von Rollenpartnern, Umdenkprozesse anzuleiten, sie wird dadurch geradezu konkretisiert. Weiterhin: Ich halte es für notwendig und wichtig zu betonen, dass Fachkompetenz angehender Chemielehrer gesichert bleibt (wird). Dies ist allerdings - zumal bei der angespannten Ressourcenlage - nicht Auftrag der Chemiedidaktik, sondern Kernfunktion chemischer Studien innerhalb der differenzierten Lehrerausbildung. Die (durchaus erfreuliche) Erwartung der Studierenden Sylvia Spaniol-Adams trifft auf die (abweichenden) Vorstellungen, Fachkompetenz als Voraussetzung für chemiedidaktische Studien zu begreifen und - z. Zt. - als Serviceleistung der Fachwissenschaft Chemie aufzufassen. Diskussionen über dieses Ausbildungsverhältnis haben eine lange Tradition und auch darüber, dass erst eine solide Methodenkompetenz Chancen für individualisierenden (konstruktivistischen?) Chemieunterricht bieten. Insofern ist der Ratschlag, darauf in Paderborn noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen, sehr ernst zu nehmen (vgl. 2.5). Für die Konkretisierung der im Sommer 2002 erlassenen Ausbildungsordnungen für die Lehrämter in Nordrhein-Westfalen wird dieser Aspekt sehr wichtig. Entsprechende Standards sind aber nicht zum Nulltarif zu haben.

 

Allgemein spiegelt die Arbeit der Studierenden für mich, wie hochschuldidaktisch konsensfähige Theorieelemente der Chemiedidaktik zu vermitteln sind, eben an Standards wie Komplexität, Authentizität, Selbsterfahrung, Selbstständigkeit, Reflexionsbereitschaft u. a. orientiert - und an Notwendigkeiten für schulische Lehr- und Lernfragen. Dazu bedurfte es nicht (mehr) aus PISA (und TIMSS) abgeleiteter Konsequenzen. "Schülerorientierung" als Standard könnte dann tatsächlich "gelernt" und "verstanden" werden. Solche wissenschaftlich vermittelte Standards sind dann (immer) Fixpunkte für Reflexionen, eigene Standpunkte nachdenklich und nachhaltig zu bewältigen, sich sie bewusst zu machen. Die Rolle "Chemielehrer" ist ja wahrscheinlich nicht konsistent. Sylvia Spaniol-Adams, im Erststudium ein Studium der Chemietechnik als Dipl.-Ing. abgeschlossen, hat dieses während ihres "pädagogischen Studiums" (vgl. 2.5) gemerkt und versucht, diesen Intra-Rollenkonflikt als Studierende des Lehramts Chemie zu bewältigen (vgl. 2.5) und somit Ansprüche an Chemielehrerverhalten in ihrer späteren Berufstätigkeit "theoretisch reflektiert" zu entfalten. Quasi als Nebeneffekt ergibt sich zwischen den Zeilen eine (Selbst)Evaluation der Paderborner Chemiedidaktik (vgl. Woest 2002).

 

 

Literatur:

 

H.-J. Becker, Chemiedidaktische Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland - Situationsanalyse und Bilanz, Lang-Verlag, Frankfurt 1994

H.-J. Becker, Lehrerverhalten - allein entscheidend? In: L. Jäkel u. a. (Hg.), Der Wandel im Lehren und Lernen von Mathematik und Naturwissenschaften. Bd. II: Naturwissenschaften (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg). Dt. Studienverlag, Weinheim 1994, S. 209

H.-J. Becker, Zum Unterrichtspraktikum im Lehramtsfach Chemie - Überlegungen und Möglichkeiten einer berufsfeldbezogenen Praxisbegegnung. In: F.-J. Kaiser, C. Künkler und F. Söll (Hg.), Schulpraxis und Lehramtsstudium, Paderborn 2000, S. 65

H. Hildebrandt, Chemiedidaktik und Unterrichtswissenschaftlichkeit. Zur Analyse der chemiedidaktischen Lehre an deutschen Hochschulen, Lang-Verlag, Frankfurt 1998

D. Köhler, Chemiedidaktische Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Analyse zur Situation des historischen Chemieunterrichts. Lang-Verlag, Frankfurt 2002

S. Spaniol-Adams, Erwartungen von Rollenpartnern an Chemielehrer: Leitlinien für die chemiedidaktische Ausbildung in Paderborn. Staatsexamensarbeit, Paderborn 2002

V. Woest, Auch wir studieren Chemie! Das Chemie-Lehramt aus Sicht der Studenten. ChemKon, 9 (2002), S. 110

 

 

Anschrift der Autoren:

Sylvia Spaniol-Adams, Hans-Jürgen Becker (becker@cc.upb.de), Universität Paderborn, Fakultät für Naturwissenschaften, Department Chemie, Didaktik der Chemie, 33095 Paderborn