Stan­dards für die che­mi­e­di­dak­ti­sche Aus­bil­dung von Leh­re­rin­nen und Leh­rern sind Vor­aus­set­zung für Stan­dards im Che­mi­e­un­ter­richt!

Von H.-J. Becker und H. Hildebrandt

 

1. Reform - Veränderung von innen

 

Es gibt Hinweise darauf, dass die Ausbildung von Chemielehrerinnen und -lehrern in Deutschland [1] - und weltweit [2] - Entwicklungspotenziale besitzt. Auch die Weiter- und Fortbildung ist bisher nicht befriedigend gelöst. Neue Weiterbildungsstrukturen sollen helfen. Damit wird (auch) ein erstes Defizit der (chemiedidaktischen) Ausbildung manifest: Die angestrebte Selbstweiterbildungskompetenz von Chemielehrerinnen und -lehrer wird offensichtlich nicht erreicht. Anders formuliert: Die Bedeutung des Studiengebietes Didaktik der Chemie wird realiter nicht ersichtlich, Weiter- und Fortbildung erscheinen deshalb als nicht oder nur wenig hilfreich. Insofern ist die ‚Schuldzuweisung' hinsichtlich einer geringen Fortbildungsbereitschaft aktiver Chemielehrerinnen und -lehrer differenziert zu beurteilen - auch die ‚Angebotsseite' (Ausbildungsseite) sollte in Betracht gezogen werden [3]. So ist mit zu bedenken, dass die ersten 30 Jahre universitärer Chemiedidaktik mehr und mehr kritisch bewertet werden. So wird festgestellt, dass zum Teil "Unterrichtsvorschläge unterbreitet [wurden], die aus einer rein bezugswissenschaftlichen Sicht heraus oder ausschließlich auf der Basis singulärer Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis entstanden sind, ohne mit den entsprechenden Untersuchungen der empirischen Unterrichtsforschung in Beziehung gesetzt worden zu sein" [4, S. 13] - allerdings sind solche kritischen Einschätzungen nicht neu [5].

Hochschulen sind nur eigenen Standards in Forschung und Lehre unterworfen. Dies führt allerdings nicht dazu, dass keine Normen auf Konsensbasis existieren. Standards können an deutschen Hochschulen also nur von den Hochschullehrern selbst gesetzt werden - im Bezugsfach Chemie seit langer Zeit sehr erfolgreich mit dem Ergebnis, dass das Chemiestudium in Deutschland ‚standardisiert' ist. Für die Chemielehrerinnen und -lehrerausbildung gilt dies bislang nicht: Weder für ‚richtige' Inhalte noch für hochschuldidaktische Vermittlungsformen existieren vergleichbare ‚Standards' oder ‚Normen'. Die ‚Setzung' von Standards muss allein nur durch die ‚scientific community' erfolgen - wenn ein entsprechender Bedarf wahrgenommen wird. Aber auch ohne explizite Diskussion werden Standards gesetzt - eben durch die ‚alltägliche' Lehre, die so als ‚normative Kraft des Faktischen' wirkt. Aber: Eine Offenlegung über die Normen ("Heimlicher Hochschullehrplan") findet dann nicht statt. Die Studierenden bewerten diese ‚Konzepte' allerdings schon [6].

 

2. (Chemie-)Lehrerausbildung

 

Das fachliche Niveau der Lehrerausbildung in Deutschland wird als hoch eingeschätzt, während die Ausbildung in den Bereichen Pädagogik und Fachdidaktik besonders von Studierenden kritisiert wird: Die erwarteten Kompetenzen werden nicht so vermittelt, dass sie in der Berufspraxis als hilfreich empfunden werden oder das sie die berufliche Praxis innerhalb von 30 Jahren verändert hätten. 

Der Einfluss universitärer Studiengänge auf die Einstellungen und Haltungen von Lehrern ist - nach den vorhandenen empirischen Erkenntnissen - gering. In der Berufspraxis erfolgt dann allzu häufig ein Rückfall in selbst erlebtes oder im Fachstudium beobachtetes Lehrerverhalten. Pointiert formuliert: "Das Studium hilft wenig zur Lösung der Berufsaufgaben, aber es stärkt das Standesbewusstsein" [7, S. 116]). 

 

 

 

Abbildung 1: Einflussfaktoren auf chemiedidaktische Lehre

 

Lehrende vermitteln zum einen direkt oder indirekt zwischen "gesellschaftlichem Programm" und "praktischer Umsetzung", zum anderen bilden sie die zukünftigen Chemielehrerinnen und -lehrer (aus). Gleichzeitig ist über die chemiedidaktische Lehre wenig bekannt - dies gilt sowohl für inhaltliche Schwerpunkte und die hochschuldidaktisch-methodische Gestaltung - von Ausnahmen abgesehen [8].

Die organisatorische Rahmenstruktur (universitäre Lehrerbildung, Zweiphasigkeit, zwei Staatsexamina) gilt dabei vielfach nicht als entscheidendes Defizit: Vielmehr sind die Entwicklungspotenziale im vorhandenen Ausbildungssystem zu nutzen [9]. Strukturell-organisatorische Diskussionen um die Beibehaltung eines Studienmodells, in dem Fächer, Fachdidaktiken, Erziehungswissenschaften und schulpraktische Elemente zeitlich parallel studiert werden oder um die Einführung eines BA/MA-Modells sind als zweitrangig einzuschätzen. Letzteres Ausbildungsmodell wird zumeist mit "internationalen Anforderungen" begründet, wobei diese ‚Anforderungen' nicht diskutiert werden. Bestehende Probleme der derzeitigen Ausbildung werden so nicht gelöst. Die Berufswissenschaften der Lehrerinnen und Lehrer, vor allem also die Pädagogik und die Fachdidaktiken, müssen inhaltlich so weiterentwickelt werden, dass die chemische Fachausbildung von Anfang mit einer Reflexion der Lernprozesse gekoppelt ist. Die Schaffung neuer Organisationsformen oder -einheiten erscheint eher als "Instrumentalisierung der Probleme zur Beruhigung des notorisch schlechten Gewissens" [10, S. 320].

Notwendig ist eine vergleichende Evaluation der Lehrerausbildungsstandorte in Deutschland, es geht um die "Erarbeitung eines Kerncurriculums [...] der Fächer/Fachdidaktik im Lehramtsstudium", also um ein "Ende der Beliebigkeit für Lehrende und Lernende" [9, S. 20]. Dabei "kann [es] nicht [nur] um ein Vergleichen äußerer Strukturen gehen" [9, S. 154). 

 

3. Chemiedidaktische Ausbildung in Deutschland - Ansprüche und Standardisierungsversuche

 

3.1 Eine allgemeinfachdidaktische Sicht

Jede fachdidaktische Ausbildung ist wissenschaftsorientiert zu gestalten. "Ein Ansatz ‚aus der Praxis für die Praxis' schließt diese wissenschaftliche Perspektive nicht ein".

Grundstudium: "Einführung in die Fachdidaktik", "Konzeptionen und Unterrichtsmethoden" und "Planung und Analyse von Unterricht". 

Hauptstudium: "Fachdidaktische Reflexion" anhand von "aktuelle[n] Themen des Unterrichts auf verschiedenen Schulstufen", "Erkenntnis- und Arbeitsweisen des Faches", "innovative[n] Unterrichtsmethoden in vergleichender Bewertung für den Fachunterricht", "außerschulische[n] Praxisfelder[n] des fachbezogenen Lernens", "aktuelle[n] fachdidaktische[n] Probleme[n]", "forschungsbezogene[n] Fragestellungen zum Fachunterricht" und "historische[n] Entwicklung[en] des Fachunterrichts". "Innovative Weiterentwicklung von Unterrichtsformen und Interaktionsmustern lassen sich nur unter fachunterrichtlicher Perpektive erreichen. Daher ist es notwendig, dass die Studierenden unterrichtspraktische Studien in allen Fächern belegen, die von ihnen studiert werden" [11]. 

 

3.2 Eine allgemeindidaktische Sicht

1. Vorlesung und Praktikum: Unterrichtsplanung - Schwerpunkt Frontalunterricht

2. Seminar und Praktikum: Gruppenunterricht und Projektunterricht

3. Vorlesung und Praktikum: Schülerdiagnose - Förderunterricht - LernentwicklungsberichteSeminare und Fachpraktika im ersten und zweiten Unterrichtsfach

5. Vorlesung Die Lehrerrolle auf der Beziehungsebene in Verbindung mit dem Praktikum [12] 

 

3.3 Eine chemiedidaktische Sicht

 

" Chemische Schulexperimente in Form von Schüler- und Demonstrationsversuchen mit schulgemäßen Mitteln.

" Pluralistische und differenzierte Behandlung von Unterrichtskonzeptionen für den Chemieunterricht.

" Unterrichtspraktikum im Fach Chemie mit Planung, Durchführung und Reflexion des von den Lehramtsstudenten gehaltenen Unterrichts - unter Berücksichtigung experimenteller und nicht-experimenteller Arbeitsmittel, geleitet und verantwortet von der 'Didaktik der Chemie' in Kooperation mit den betreuenden Lehrern.

" Voraussetzungen von Chemieunterricht: Schüler- und Lehrerverhalten, Selbstvergewisserung, lern- und lehrpsychologische Grundlagen von Chemielernen.

" Ziele und Aufgaben des Chemieunterrichts an allgemeinbildenden Schulen [1]

 

3.2 Programmatik - oder mehr?

 

Nach vorliegenden Daten (vgl. 1) scheint auch für das Fachgebiet Didaktik der Chemie zu gelten, dass die Lehrmethoden mit den Zielen der Ausbildung, studentisches Lernen zu ermöglichen, verwechselt werden. Die Lehre ist kein ‚Thema' der chemiedidaktischen Diskussion: Wissen gewinnt erst an Bedeutung, wenn es aktiv durch individuelle Erfahrungen konstruiert, geschaffen und verändert wird [13] - wird dies nicht beachtet, besteht die Gefahr, dass die Ziele der Lehre durch die Methoden konterkariert werden. 

Lehramtsstudierende erleben Chemiedidaktiker vor allem auch als Fachlehrende. Das kann im Sinne eines Lernens am Modell einerseits problematisch sein und (kognitiv und emotional) als Primat des Faches vor der Fachdidaktik als Berufswissenschaft verstanden werden. Andererseits ist die Verbindung von Fach und Fachdidaktik gerade die ‚Stärke', der Schlüssel, um Studierende chemiedidaktische Theorie als sinnvoll für das eigene praktische Tun erleben zu lassen. Da der Unterricht aber nicht besser sein kann, als die dafür ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer, stellen die Ergebnisse der Studie PISA 2000 insbesondere neue Herausforderungen an die Fachdidaktik [14]. Allerdings: Die GDCh-Studienreformkommission Lehramt Chemie Sekundarstufe I/Primarstufe beschränkt sich bei ihren Empfehlungen zur Ausbildung von Primarstufenlehrerinnen und -lehrern auch im Jahr 2002 nur auf inhaltliche Vorschläge (vgl. 3.2) wie "Stoffe: Eigenschaften und Veränderungen", "Mensch und Umwelt" und "Gesundheit und Ernährung", auf eine chemiedidaktische Akzentuierung wird verzichtet. Ein fachdidaktischer Studienanteil muss in der ersten Phase die Studenten für emotionale und soziale Aspekte von Chemieunterricht sensibilisieren, z.B. durch Berücksichtigung von solchen Bedingungen bei der Unterrichtsplanung und durch Übung von Lehrerverhalten in unterrichtsspezifischen Situationen. Lehrerverhaltensweisen - Durchführung von Schülerversuchen, Überprüfung pragmatischer Lernziele, Zulassen von Spekulationen, Anregen von Neugierverhalten u.ä. - sollten bereits hier internalisiert werden, damit sie in der Praxis wirksam werden können. 

Das Fachgebiet 'Didaktik der Chemie' hat sich in der Forschung profiliert, Lehrende der Chemiedidaktik merken aber selbstkritisch an, dass ihre persönliche Interessen der Lehrenden zu oft die chemiedidaktische Lehre 'beherrschen': Es ist kein Hinweis auf eine 'profilierte' Wissenschaft, wenn biographisch legitimierte Lehrinhalte verobjektiviert werden - und somit in den Rang von Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Theorieelementen erhoben werden [1]. Die Aufzählung von chemiedidaktischen Lehrinhalten ist mit Blick auf ‚die hochschuldidaktische Realität' allenfalls Programmatik (vgl. 3). 

 

4. Beispiel: Das Unterrichtspraktikum/die schulpraktischen Studien im Fach Chemie

 

Schulpraktische Studien gelten als konstitutives und integrales Studienelement (vgl. 3) und zielen vorrangig auf Erkenntnis und Überprüfung der Theorie ab - insofern ist der Begriffswechsel vom ‚Praktikum' zu den ‚Studien' durchaus als inhaltliche Akzentsetzung zu deuten [7]. Zudem kann bei entsprechender Gestaltung die (persönliche) ‚Bedeutung' von Theorie für die Praxis erfahren werden [15]. Allerdings werden die schulpraktischen Studien wegen ihrer geringen Relevanz kritisiert, deren Durchführung allzu häufig an interessierte Lehrbeauftragte übertragen wird, die nicht zum universitären Stammpersonal gehören. So haben sich die schulpraktischen Studien zum 'Stiefkind' der Lehramtsstudiengänge entwickelt [11], die nur selten wirklich in das Studium eingebunden sind [16], mithin marginalisiert und isoliert im Studiengang stehen. Als Anspruch gilt: "Anstelle unbetreuter Blockpraktika oder auch sporadischer Schulkontakte in sog. Tagespraktika sollten unter den Kriterien der Kontinuität, Intensität der Erfahrung und wissenschaftlicher Begleitung ausgestaltete Praxisphasen in wichtigen Studienabschnitten experimentell erprobt und implementiert werden" [17, S. 44]). Hinzu kommt, dass das universitäre Ausbildungssystem nicht Lehrer, sondern Wissenschaftler ausbildet - deshalb sind praktische Studienelemente nur schwierig zu verorten und besitzen an Universitäten keine Tradition. 

Eine schriftliche, bundesweite Befragung von Lehrenden zeigt, dass auch im Bereich der Didaktik der Chemie die Realität nicht dem Anspruch entspricht. Die Bestimmung zur Durchführung von Unterrichtspraktika/schulpraktischen Studien im Fach Chemie sind auch innerhalb der Bundesländer uneinheitlich geregelt - die Studienordnungen lassen den Lehrenden ‚Spielräume' bei der Ausgestaltung -, aber sie sind verpflichtender Studieninhalt an fast allen Hochschulen. Die Studien dauern von etwa vier Wochen bis zu einem Semester, sie werden durch die Hochschullehrer selbst (selten), wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität und durch Lehrer (der Regelfall) in den Schulen betreut. Die Studenten haben bis zu 20 Stunden selbstständig zu unterrichten - oder auch gar nicht. 

Absprachen mit den betreuenden Lehrern hinsichtlich der Ziele und Inhalte der schulpraktischen Studien sind eher die Ausnahme als die Regel. Das "Nein" ist bei der Frage nach ‚Absprachen' die häufigste Antwort, gelegentlich auch mit Begründungen wie "das würde die Mentor/inn/en überfordern" oder "Werden von Fall zu Fall diskutiert". Äußerungen wie "den Unterricht so wenig wie möglich zu stören [und] die Thematik des Mentors zu übernehmen" überzeugen wenig - und konterkarieren das Konzept ‚Schulpraktische Studien'.

Andere Erläuterungen beziehen sich auf Planung, Zielsetzung und Analyse des Unterrichts oder auf Beurteilung der Unterrichtsleistungen der Studenten. Auch allgemeinere Aussagen sind zu finden, z.B. "Je nach Lerngruppe verschieden" oder "Gemeinsame Absprache (immer) inhaltlich und methodisch", aber auch Lernziele für Studenten werden genannt: "Lehrerverhalten, Umgang mit Schülern, Motivation, Problemstellung im Unterricht", "Gewinnen von Erfahrung mit Rückwirkung auf Studium. Probieren verschiedener Alternativen. Hineinfinden in die Lehrerrolle" und "Innovative Formen der Stoffauswahl [...] und der Lehr-/Lernform". Nur eine Erläuterung thematisiert Schüler und Studenten: "Ja, Augenmerk auf Schülerverhalten richten, auf die kognitiven Probleme und Schwierigkeiten, Emotionen beachten, didaktische Theorie ´mal ausprobieren, >Mißerfolge< zulassen (bei sich selbst und bei Schülern)". Eine (von insgesamt 68 angeschriebenen Hochschulen) Ausnahme stellt dieser Fall dar: "Die beteiligten Lehrer nehmen an dem Begleitseminar zum Schulpraktikum (Vor- und Nachbereitung) teil".

Das insgesamt geringe Interesse bei der Beantwortung dieser Frage ist unabhängig von der Schullehrerfahrung der Befragten und damit ein Hinweis, dass Schullehrerfahrung allein kein hinreichender Grund ist, schulpraktische Bezüge während der Ausbildung zu betonen. Es finden sich keine Hinweise, dass ehemalige Schulpraktiker etwa 'praxisorientierter' lehren als ihre Kollegen ohne Schullehrerfahrung - oder umgekehrt. Die Bedeutung des Unterrichtspraktikums im Schulfach Chemie scheint für die Lehrenden eine eher untergeordnete Position einzunehmen - wohlgemerkt in der täglichen Unterrichtspraxis. 

 

5. Chemiedidaktik und Chemieunterricht an allgemeinbildenden Schulen: Keine Erfolgsgeschichte

 

"Interessanterweise scheint sich trotz der in den letzten dreißig Jahren geleisteten umfangreichen informativen Forschungsarbeit zum Implementation innovativer Methodologien in die Unterrichtspraxis die Kluft zwischen Theorie und Praxis nicht zu verringern" [18, S. 122]. So zeigen die aktuellen Befunde der Studie PISA 2000, dass die "Chemiekompetenz in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt am niedrigsten ausgeprägt" ist [19, S. 151], wobei die Versorgung mit ausgebildeten Chemielehrerinnen und -lehrern in diesen Ländern eher besser als im Bundesdurchschnitt ist. Als Grund für die vergleichsweise schlechten Leistungen wird die "deutsche Unterrichtstradition, mit einer Neigung zum fragend-entwickelnden und fachsystematisch orientierten Unterricht" [20, S. 234] identifiziert und der Schluss gezogen, dass es neben "unterrichtsorganisatorischen Maßnahmen [...] einer didaktischen Umorientierung in Richtung auf einen stärker problem- und anwendungsorientierten Unterricht" bedarf [20, S. 239] - also um originär chemiedidaktische und theoretisch konsensfähige Lehrziele der ersten Phase. Pädagogische Standards werden auch im Bereich des ‚Lehrerverhaltens' verfehlt.

 

6. Standards in der chemiedidaktischen Lehre: Forschungsdesiderat und Voraussetzung für einen zeitgemäßen Chemieunterricht

 

Die universitäre Ausbildungsphase muss zum Einen schulpraktischen Standards genügen und zum Anderen die Lehrerinnen und Lehrer in die Lage versetzen, ihren Unterricht lerntheoretisch fundiert zu planen, zu gestalten und zu reflektieren. Die praktische Ausgestaltung dieser Standards während des Lehramtsstudiums muss bedeutsam für die Adressaten sein, damit sie dem ‚Praxisschock' standhalten können - beispielsweise durch Einbezug von Praxisquellen [8] oder von solchen Materialien, die Chemieunterricht spiegeln [6]. Nur so werden Studierende auf die Praxis vorbereitet und chemiedidaktische Theorie bleibt nicht nur auswendiggelernt. Dies scheint bislang nicht immer der Fall zu sein, subjektive Unterrichtstheorien setzen sich dann doch durch und lassen die objektiven chemiedidaktischen Erkenntnisse aus der Ersten Phase ‚unsinnig' [21] erscheinen, werden also nicht praktisch bedeutsam (vgl. 1).

Chemiedidaktische Lehre muss die Grundlagen für die Entwicklung einer neuen Lehr-Lern-Kultur durch ‚Vormachen' in der universitären Lehre legen: "Studierende sollten am eigenen Leibe, als Lernende, die Vorzüge methodischer Vielfalt erfahren können, etwa den Wechsel von Sozialformen und Repräsentationsmodi. [...] Auch akademischer Unterricht sollte lebendig sein in dem Sinne, dass nicht nur fertiges Wissen vermittelt wird, sondern dass (thematisch relevantes) subjektive Erfahrungen in den Diskurs eingebracht und aufgearbeitet werden können" [22, S. 201] - Didaktik besteht eben nicht ausschließlich in der Übermittlung von Informationen.

Ein ‚Lehrplan', ein ‚Kerncurriculum' für die chemiedidaktische Ausbildung fehlt. Allerdings wird Chemiedidaktik tagtäglich gelehrt - und diese Erfahrungen, Möglichkeiten, Innovationen, Legitimationen und Zugänge werden nicht diskutiert. Aus der Erfassung, Dokumentation und Diskussion der ‚real existierenden' Standards kann jedoch ein Standard generiert werden, mit dessen Hilfe eine ‚Vereinheitlichung', ‚Professionalisierung' und bessere Vergleichbarkeit der Ausbildung erreicht werden kann. Zugleich wird die Vielseitigkeit der Didaktik der Chemie in Lehre (und Forschung) der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und schafft so Kommunikationsanlässe zwischen Lehrenden über die Ausbildung von Chemielehrerinnen und -lehrern. Das empirische Fundament bildet dabei die Befragung der Lehrenden (vgl. Abb. 2) und die Analyse ihrer Lehrmaterialien. Diese Daten werden dann zur Fundierung mit konsensfähigen theoretischen Überlegungen abgeglichen. Dabei wird weder eine ‚Kontrolle' noch eine ‚Gleichschaltung' der chemiedidaktischen Lehre angestrebt, vielmehr steht die Eruierung von zeit-, raum- und ortsunabhängigen hochschuldidaktischen Bildungsprozessen in der chemiedidaktischen Ausbildung im Mittelpunkt. Dazu sind neben "organisatorischen" und "inhaltlichen" Fragen auch "hochschuldidaktisch-methodische" Komponenten zu erfassen. Damit wird der Weg von einer ‚Strukturdiskussion' zu einer ‚fachdidaktisch-holistischen' Diskussion über die chemiedidaktische Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern frei, die schließlich moderne Curricula und Methoden im Chemieunterricht umsetzen sollen. 

1. Institutionelle Einbindung

2. Prüfungsrelevanz

3. Inhalt der Lehrveranstaltungen

4. Lehrveranstaltung zum Unterrichtspraktikum

5. Soll die Fachausbildung durch Chemiedidaktiker erfolgen?

6. Welche "Methoden" und "Konzeptionen" werden in den Seminaren/Lehrveranstaltungen behandelt?

7. In welcher Form werden chemiedidaktische Lehrveranstaltungen abgehalten?

8. Welche Quellen, Archive etc. werden für die Lehre genutzt?

9. Ausstattung des Arbeitskreises

10. Einschätzung des "Grobcurriculums"

11. Wie werden die Inhalte des Grobcurriculums gefüllt?

12. Leistung (-nachweise) - Lernzuwachs - Lernprozesse: Wie werden sie in Lehrveranstaltungen erfasst?

13. ...  

 

Abbildung 2: Fragenkatalog

 

Letztlich handelt es also um die Erfassung, die Diskussion und den (verstärkten) Austausch über die Lehre im Fachgebiet Didaktik der Chemie, also um eine "Didaktik der Didaktik der Chemie" - mit dem Ziel empirisch begründete Standards für die chemiedidaktische Ausbildung zu setzen [23]. Aber auch Selbstevaluationen sind möglich ([6] und [8]).

 

 

Literatur:

[1] H. Hildebrandt, Chemiedidaktik und Unterrichtswissenschaftlichkeit. Zur Analyse der chemiedidaktischen Lehre an deutschen Hochschulen. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 1998

[2] S.K. Abell (ED.), S.K.: Science Teacher Education. An International Perspective. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 2000; D. R. Lavoie, W.-M. Roth (Eds.), Models of Science Teacher Preparation. Theory into Practice. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 2001

[3] W. Jansen, Fortbildung tut not. ChemKon 9, 121 (2002)

[4] I. Eilks, B. Ralle, Partizipative Fachdidaktische Aktionsforschung. Ein Modell für eine begründete und praxisnahe curriculare Entwicklungsforschung in der Chemiedidaktik. ChemKon 9, 13 (2002)

[5] H.-J. Becker, W. Glöckner, F. Hoffmann, G. Jüngel, Fachdidaktik Chemie. Köln: Aulis Verlag 19801; H.-J. Becker, H. Hildebrandt, Research in didactics of chemistry in Germany - Perspectives for future teacher training. In: B. Ralle, I. Eilks (Eds.), Research in Chemical Education - What does it means? Aachen: Shaker Verlag 2002, S. 27

[6] H.-J. Becker, S. Spaniol-Adams, in diesem Heft; chemie.uni-paderborn.de/arbeitskreise/didaktik/ak_becker/f_l/alltag.html; V. Woest, Auch wir studieren Chemie! Das Chemie-Lehramt aus Sicht der Studenten. ChemKon 9, 110 (2002)

[7] H.-K. Beckmann, Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik und Konsequenzen für die Lehrer(aus)bildung. In: E. Glumpler, H.S. Rosenbusch (Hg.), Perspektiven der universitären Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 1997, S. 97

[8] H.-J. Becker, Forschung in der Lehre - ein hochschuldidaktisches Stilmittel. GDCP 25, 298 (1997); M. Schallies, T. Nohl, P. Buck, Praktikumsevaluation als Aufgabe eines fachdidaktischen Seminars. chim.did. 23, 154 (1997)

[9] E. Terhart (Hg.), Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission. Weinheim: Beltz Verlag 2000

[10] W. Habel, Ein alternatives Modell universitärer Lehrerausbildung. In: M. Bayer, F. Bohnsack, B. Koch-Priewe, J. Wildt (Hg.), Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenz? Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2000, S. 320

[11] E. Glumpler, Entwicklungen und Perspektiven der universitären LehrerInnenbildung. In: E. Glumpler, H.S. Rosenbusch (Hg.), Perspektiven der universitären Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 1997, S. 11

[12] B. Janssen, Raus aus der Uni! Die Lehrerausbildung darf keine Nebensache sein - ein Plädoyer für wissenschaftliche Pädagogische Hochschulen. In: DIE ZEIT 57 (2002), Nr. 22, S. 71

[13] A. Winteler, Lehrqulität = Lernqualität? Über Konzepte des Lehrens und die Qualität des Lernens (I). Das Hochschulwesen 50, 42 (2002); chemie.uni-paderborn.de/arbeitskreise/didaktik/ak_becker/f_l/fidl.html

[14] C.S. Reiners, Auf dem (Irr-)Weg zu naturwissenschaftlichen Arbeits- und Denkweisen. Eine fachdidaktische Reflexion. In: ChemKon 9, 136 (2002)

[15] P. Fraser-Abder, Contextualizing Professional Development in Large Multicultural, Multilingual Urban American Communities. In: P. Fraser-Abder (Hg.), Professional Development of Science Teachers. Local Insights with Lessons for the Global Community. New York (USA): RoutledgeFalmer 2002, S. 21

[16] S. Blömeke, Zentren für Lehrerbildung: Entstehungszusammenhang, Modelle und Analyse der Leistungsfähigkeit. In: M. Bayer, F. Bohnsack, B. Koch-Priewe, J. Wildt (Hg.), Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenz? Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2000, S. 251; H.-J. Becker, Das Unterrichtspraktikum in Chemie: Zum Unterrichtspraktikum im Lehramtsfach Chemie - Überlegungen und Möglichkeiten eines berufsfeldbezogenen Praxiszugangs. In: F.-J. Kaiser, C. Künkler, F. Söll (Hg.), Schulpraxis und Lehramtsstudium. Paderborn: PLAZ 2000, S. 65

[17] DGfE, Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. In: M. Bayer, F. Bohnsack, B. Koch-Priewe, J. Wildt (Hg.), Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenz? Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2000, S. 17

[18] R.H. Evans, T.R. Koballa: Umsetzung der Theorie in die Praxis. In: W. Gräber, P. Nentwig, T. Koballa, R. Evans (Hg.), Scientific Literacy. Der Beitrag der Naturwissenschaften zu Allgemeinen Bildung. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 122

[19] M. Prenzel, C.H. Carstensen, J. Rost, M. Senkbeil, Naturwissenschaftliche Grundbildung im Ländervergleich. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000 - Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 129

[20] M. Prenzel, J. Rost, M. Senkbeil, P. Häußler, A. Klopp, Naturwissenschaftliche Grundbildung: Testkonzeption und Ergebnisse. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 239

[21] J. Lähnemann, Das semesterbegleitende fachdidaktische Praktikum. Konzeptionen und Erfahrungen aus der Religionspädagogik. In: E. Glumpler, H.S. Rosenbusch (Hg.), Perspektiven der universitären Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 1997, S. 133

[22] H.W. Heymann, Lehrerbildung für einen allgemeinbildenden Fachunterricht. In: M. Bayer, F. Bohnsack, B. Koch-Priewe, J. Wildt (Hg.), Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenz? Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2000, S. 195

[23] H. Hildebrandt, Erarbeitung eines chemiedidaktischen Kerncurriculums für die chemielehrerausbildenden Hochschulen in Nordrhein-Westfalen. Habilitationsvorhaben an der Universität Paderborn.

 

Anschrift der Autoren:

Hans-Jürgen Becker (becker@cc.upb.de), An der Kapelle 37, 33102 Paderborn-Schloß Neuhaus und Henry Hildebrandt (hh@cc.upb.de), Langer Weg 2, 33100 Paderborn